Lenins Lippen
In den Briefkästen in Pauls Straße liegen neuerdings jeden Donnerstag Flugblätter. Sie handeln immer irgendwie vom Klassenkampf, von Kapitalumlauf und Knechtschaft, Kurdistan und Daimler-Benz, von RAF und Muff und Maff, und jedesmal fühlt Paul sich schuldig, wenn er sie ungelesen in die Kiste wirft, zu all dem traurigen Papier von Obi und Lidl.
So geht es Woche um Woche, bis Paul im Hausflur den Boten erblickt, ein blondes Juwel aus der Gattung gottgleich, schäbig gekleidet, mit hohlen Wangen und fiebrigen Augen. Paul reißt ihm das Gedruckte gleich aus der Hand. Der Text ist diesmal etwas kurz: Kapitalismus kann nicht funktionieren, weil sich alles nur ums Geld dreht.
Wie wahr, ruft Paul. Hast du das geschrieben?
Der Junge lächelt bescheiden, und in dem Moment macht es knack in Pauls Brust, links, wo das Herz sitzt.
Darf ich dich Lenin nennen? fragt Paul heiser.
Wäre mir eine Ehre, antwortet der Junge. Und nu muß ich leider weiter.
Warte, ruft Paul, und auf einmal reitet ihn der Teufel, dergestalt, dass er die Wahrheit spricht: Du hast mir mein Herz gebrochen. Und nichts auf der Welt kann es heilen. Außer die Gnade deines Leibes.
Lenin glotzt verständnislos.
Paul verlegt sich aufs Plärren. Hat dein Kampf keinen Sinn für meinesgleichen? Sieh unser Leid! Das Gebären ist uns nicht gegeben, nicht mal heiraten dürfen wir. Erbarme dich meiner armen Natur!
Die Revolution kennt kein Erbarmen, schmettert Lenin.
Aber sie scheitert, wispert Paul mit List, wo sie die Not des gemeinen Mannes nicht sieht. Ich sage bloß Mallorca und Bananen! Na, wie wärs? Erfahrung weitet den Horizont.
Ich ahne, auf was du rauswillst. Lenin winkt ab. Nee, nee. Ich vertrau da auf mein Gefühl.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, zitiert Paul. Als auch das nichts hilft, kehrt er krude zurück zum irdischen Gebaren. Okay. Komm mit. Kriegst hundert Mark.
Lenins Lippen schließen sich fest, indes ertönt ein Knurren seines Magens, das Paul als Antwort gelten läßt; er packt das Jungtier im Genick. Doch der Hof hat tausend Augen, und in der Wohnung hockt Schweinchen. Aufn Dachboden, beschließt Paul. Aber psst!
Sie stapfen die Treppen hoch. Die schwere Eisentür quietscht, und sie treten ins verschwiegene Reich aus Staub und Gerümpel. Eine Fledermaus blinzelt vom Balken runter und gleitet lächelnd in ihren Traum zurück. Lenin entkleidet sich wunschgemäß, mit der Anmut des frühen di Caprio. Was dort speziell zutage tritt, müffelt ein wenig und fürchtet sich. Paul kitzelt es am Kopf und flüstert beschwörende Worte: Ich bin der Wille. Ich bin die Kraft. Ich bin der Kampf, der Sieg. Mir gehört die Zukunft!
Nazi, faucht Lenin und will sich losmachen.
Quatsch, sagt Paul. Das ist von Clara Zetkin! Und siehe, der Name wirkt Wunder: Lenins Schwanz erhebt sich weit über jede EU-Norm. Die Krallen einer Taube kratzen auf dem Blech des Dachfensters. Paul muß niesen vom Staub. Lenin ist schon angezogen. Der Hunderter wechselt knisternd den Besitzer; Wochenendeinkauf adieu, denkt Paul, wie bring ich das bloß Schweinchen bei? Lenin schüttelt sich und springt davon. Auf einmal versteht Paul den Satz, der ihn schon als Kind bewegt hat, Gary Cooper sagt ihn zu einem Halunken: Der Tag wird kommen, an dem du für alles bezahlst. Freitagmittag trifft Paul auf der Straße Frau Peng. Ich muß dir was erzählen, sprudelt sie los. Gestern, ich komme grad nach Haus, spricht mich im Flur ein Bürschchen an, ganz aufgelöst, fragt, ob ich arm bin. Sag ich: ,Klar, was sonst? Sagt es: ,Ich muß bei Ihnen duschen! Und gibt mir hundert Mark.
Und du?
Ich dachte, schaun wa mal. Peggys Blick verklärt sich. Und denn hat er eben jeduscht. Sie macht eine Pause, während der Paul an einer Laterne Halt sucht. ,Na, frag ich anschließend, ,besser? Noch nicht, sagt er, und stell dir vor, schon fällt er über mich her!
Nein!
Doch! Und schließlich war es wie bei Nina Hagen: ,Während du vor Glück stöhnst / frißt er dir den Kühlschrank leer ...
Wie geht das mit den dümmsten Säuen und den dicksten Kartoffeln? fragt Paul.
Aber es ist mir eklig, gesteht Peggy. Ich hab noch nie vorher Geld genommen.
Glaub mir, seufzt Paul. Nehmen ist seliger denn geben. Und er erzählt ihr seinen Teil der Geschichte.
Wenn das so ist, denn bin ick ja mal froh, ruft Peggy und gibt Paul seinen Hundertmarkschein zurück. Sie schaun sich ein Weilchen an und grinsen. Denkst du auch, was ich denke? fragt Paul. Donnerstag liegt er im Hof auf der Lauer, die Briefkästen im Blick. Lenin erscheint um viertel nach drei. Paul winkt mit dem Geldschein. Weiche, Satan, ruft Lenin matt.
Sieh es als Spende, empfiehlt Paul. Du stehst eben mit Haut und Haaren im Dienste der Menschheit.
Auf dem Dachboden ist alles beim Alten. Diesmal trägt Lenin eine saubere Unterhose, und seine umstandslose Erektion riecht nach billiger Seife. Bei der Geldübergabe denkt Paul an das Märchen von der Schale, die sich fortwährend selbst auffüllt.
Bis nächsten Donnerstag, hätte er fast gesagt, aber Lenin ist schon im Treppenhaus. Weiter unten geht eine Wohnungstür auf. So ein Zufall! ruft Peggy Peng, dann ertönt heftiges Geraschel. Die Tür klappt wieder zu, und Stille legt sich auf die Stufen.
Geld hin, Geld her, denkt Paul benommen, anscheinend funktioniert es ja doch. Aber das wird er Lenin niemals verraten. |